In der Sitzung des Ausschusses für Bau- und Stadtentwicklung (BAU) am 25.05.2021 wurde den Ausschussmitgliedern erstmals das fortgeschriebene Einzelhandelskonzept vom 29.10.2020 vorgestellt. Dieses Konzept soll als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und städtebauliche Einzelhandelsentwicklung, insbesondere zur Erstellung und Veränderung von Bebauungsplänen, dienen und das im März 2009 erstellte Strukturgutachten (https://www.buerstadt.de/fileadmin/Dateien/Dateien/Wirtschaft_und_Infrastruktur/Standort_Buerstadt/20190719_Standort_Buerstadt_Einzelhandelskonezpt.pdf) ersetzen.
Das mehr als 90 Seiten umfassende Dokument schildert zunächst sehr eindrücklich und ausführlich die rückläufige Entwicklung des Bürstädter Einzelhandels. So wird in dem Gutachten herausgearbeitet, dass die Zahl der Betriebe in dem Zeitraum von 2008 bis einschließlich 2020 um insgesamt 25 % zurückging. Insbesondere in der Bürstädter Innenstadt sank die Zahl um 32 %, in sogenannten Streulagen sogar um 51 %. Zurückgeführt wird dieser Rückgang laut des Gutachtens hauptsächlich auf betriebliche Ursachen. Angeführt werden beispielsweise die Schlecker-Pleite, Nachfolgeprobleme und veränderte Verbrauchergewohnheiten (Stichwort Online-Handel).
Das Konzept bezeichnet ausdrücklich filialisierte und discountorientierte Unternehmen als Gewinner dieses Strukturwandels. In Bürstadt haben wir jedoch solche Unternehmen hauptsächlich im Bereich des Lebensmitteleinzelhandels und hierbei handelt es sich um genau diejenige Branche, die man getrost auch als Gewinner der Corona-Krise bezeichnen kann. Insgesamt weist das Gutachten für die Discounter einen immer weiter zunehmenden Umsatz in den letzten Jahren aus und gibt den Marktanteil für 2019 mit 45 % an.
Obwohl sich aus dem Konzept auch entnehmen lässt, dass die Entwicklungen der Vergangenheit, namentlich die Ansiedlung großflächiger Betriebstypen wie z. B. der Lebensmitteldiscounter außerhalb der Innenstädte, zumindest mitursächlich dafür waren, dass die Geschäftslagen der Innenstadt und vormals bestandene Nahversorgungszentren Bedeutungsverluste hinnehmen mussten und vielerorts Fluktuation und Leerstände zu beobachten sind, bietet das Gutachten keinerlei Anhaltspunkte dahingehend, dass empfohlen wird solchen Entwicklungen in Zukunft entgegenzuwirken. Vor den vorbezeichneten Hintergründen hätten wir Liberale jedoch erwartet, dass genau diese Entwicklungen ganz grundsätzlich infrage gestellt werden. Doch hiervon ist in dem Gutachten nichts zu lesen.
Vielmehr wird letztlich sogar empfohlen, die zulässigen Verkaufsflächen durch eine Änderung der bestehenden Bebauungspläne zugunsten der Discounter zu vergrößern. Angeführt wird als Begründung, dass die Discounter Modernisierungsbedarf hätten. Die Regale in den Geschäften sollen niedriger, die Gänge breiter und damit insgesamt die Barrierefreiheit gefördert werden. Deshalb würde zusätzliche Verkaufsfläche benötigt. Laut den betreffenden Unternehmen soll damit jedoch keine Ausweitung des Warenangebots einhergehen.
Auch wird in dem Gutachten davon ausgegangen, dass das Freizeitkickergelände einer Wohnbebauung zugeführt wird. Dies wird als Argument dafür angeführt, dass auch für den Netto-Markt eine Vergrößerung der Verkaufsfläche unumgänglich sei. Allerdings wurde bislang von der Stadtverordnetenversammlung nicht beschlossen, dass das Freizeitkickergelände bebaut werden soll. Gegenwärtig sind aber keine Anhaltspunkte ersichtlich, die darauf schließen lassen, dass eine entsprechende Umnutzung dieses Areals überhaupt in absehbarer Zeit erfolgen wird. Denn es haben sich gegenwärtig zahlreiche Fraktionen, darunter auch die FDP, diesem Vorhaben gegenüber sehr kritisch geäußert.
Dem vorliegenden Gutachten kann aber auch entnommen werden, dass der wachsende Flächenbedarf moderner Lebensmittel- und Drogeriemärkte - entgegen der Beteuerungen der Discounterbetreiber - auch auf eine Ausweitung der Sortimente zurückzuführen ist. Und dies werden die meisten auch bestätigen können: Vor einigen Jahren konnte man bei Aldi, Lidl und Co. weder Schnittblumen, Zeitschriften oder ofenwarme Backwaren erwerben. Das Angebot im Non-Food-Bereich wird stetig ausgebaut und exzessiv beworben. Die Lebensmitteldiscounter treten damit mehr und mehr in Konkurrenz zu den ortsansässigen und meist inhabergeführten Einzelhändlern - auch in unserer Stadt.
Im Gegenzug wird den etablierten Einzelhandelsgeschäften bescheinigt, diese könnten von der Zunahme des Onlinehandels ebenfalls profitieren, wenn diese anstelle des reinen Offline-Ladenverkaufs künftig ihre Waren auch online zum Kauf anbieten würden. Verwiesen wird ausdrücklich auch auf Plattformen wie Amazon, von denen bekannt ist, dass diese nicht im Interesse der Einzelhändler, sondern hauptsächlich im eigenen wirtschaftlichen Interesse agieren. Der Umgang mit den eigenen Händlern hat Amazon bereits herbe Kritik auch durch das Bundeskartellamt eingebracht (https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2019/17_07_2019_Amazon.html).
Auf die Bürstädter Freidemokraten wirkt diese „Empfehlung“ wie blanker Hohn. Vielmehr wäre es im Hinblick auf die zuvor ausgeführte Entwicklung angebracht, der Marktmacht der Discounter entgegenzutreten und diese darauf zu verweisen, ihr Non-Food-Sortiment künftig über den Onlinehandel anzubieten. Entsprechende Onlineshops haben alle der betreffenden Discounter ohnehin bereits. Die Flächen, die damit frei würden, könnten die Discounter letztlich nutzen, um ihre Modernisierung durchzuführen ohne weitere Flächen zu verbrauchen.
Es stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass ein Gutachten, das den Rückgang und die schwierige Ausgangslage des etablierten Einzelhandels in Bürstadt so detailliert beschreibt und als Ursache hierfür letztlich auch die ausweitende Entwicklung der filialisierten Discounter nennt, sich letztlich als derart blind erweist und eine Förderung eben derjenigen Unternehmen anrät, die ohnehin als „Gewinner“ des Strukturwandels und der Corona-Krise zu benennen sind.
Doch die Antwort ist denkbar einfach: Ein Blick in die Auswirkungsanalyse vom 27.11.2019 genügt. Solche Auswirkungsanalysen benötigen Unternehmen, wenn sie z. B. Verkaufsflächenvergrößerungen anstreben. Denn diese Unternehmen müssen nachweisen, dass ihr Vorhaben keine nennenswerten negativen Auswirkungen für die betreffende Kommune und Region mit sich bringen. Ein solches Gutachten hat Lidl 2019 vorgelegt. Dieses Gutachten stammt aus derselben Feder, wie das nun jetzt vorliegende fortgeschriebene Einzelhandelskonzept für Bürstadt, nämlich aus der Feder der Gesellschaft für Marktentwicklung mbH (GMA), welches jedoch die Stadt Bürstadt in Auftrag gegeben hatte. Als wäre dies nicht bereits genug, haben sogar dieselben Projektleiter mitgewirkt.
Wenn man etwas recherchiert wird man auch schnell fündig, dass die GMA bereits sehr häufig auch im Auftrag entsprechender Discounterbetreiber entsprechende Gutachten erstellt hat. Beispiele hierfür sind:
- Norma in Ottobeuren (Auswirkungsanalyse zur geplanten Verlagerung und Erweiterung des NORMA Lebensmitteldiscounters in Ottobeuren, Stephansrieder Straße v. 23.08.2019),
- Lidl in Heppenheim (Auswirkungsanalyse zur geplanten Erweiterung eines Lidl-Lebensmittelmarkts in der Stadt Heppenheim v. 18.07.2016),
- Netto in Damme (Auswirkungsanalyse zur Erweiterung und Verlagerung von Netto Marken-Discount in Damme v. 09.10.2019),
- Netto in Euskirchen (Auswirkungsanalyse zur Erweiterung eines Lebensmitteldiscounters in Euskirchen, Kölner Straße v. 06.12.2018),
- Lidl in Überherrn (Auswirkungsanalyse zur geplanten Erweiterung eines Lidl-Lebensmitteldiscounters in Überherrn, Standort Langwies v. 04.05.2018),
- Lidl in Oberndorf (Auswirkungsanalyse zur geplanten Erweiterung des Lidl-Lebensmitteldiscounters in Oberndorf a. N. v. 22.07.2020),
- Lidl in Schwieberdingen (Auswirkungsanalyse zur Erweiterung / Neubau eines Lidl-Lebensmitteldiscounters in Schwieberdingen, Im Seelach v. 13.01.2017),
- Lidl in Kuchen (Standortanalyse LIDL-Erweiterung in der Gemeinde Kuchen v. 10.06.2020).
Die Vergrößerung der Verkaufsflächen wurde in all diesen Fällen als unbedenklich eingeordnet. Den Bürstädter Liberalen ist kein einziges Gutachten der GMA bekannt, mit welchem einmal von einer entsprechenden Erweiterung abgeraten worden ist.
Ein weiterer Punkt der Diskussion war am 25.05.2021, als der Wunsch seitens einzelner Stadtverordneter aufkam, die Erweiterung des Lidl-Marktes zur Vermeidung weiteren Flächenverbrauchs solle mindestens zweigeschossig erfolgen. Hierzu wurde bislang seitens der Stadtverwaltung und auch am 25.05.2021 seitens der GMA jedoch nur erläutert, dass dies nicht dem Vorhaben der Firma Lidl entspricht und von dort nicht gewünscht sei. Allerdings heißt es in der „Auswirkungsanalyse zur geplanten Erweiterung eines Lidl-Lebensmittelmarktes in der Stadt Heppenheim“ vom 18.07.2016, ebenfalls erstellt von der GMA, auf Seite 8:
„[…] Die Vergrößerung des Marktes geht mit der Einführung eines neuen, bundesweit angestrebten Immobilienkonzepts der Fa. Lidl […] einher. Besonderheiten dieses neuen Typs sind zweigeschossige, ökologische Bauweise mit Verkaufs- und Lagerflächen im Erdgeschoss sowie Neben-, Büro-, Sozial- und Umkleideräume im Obergeschoss […]“.
Es ist erstaunlich, dass die Firma Lidl zweigeschossige Gebäude bundesweit errichten will, aber bei dem geplanten Abriss und Neubau in Bürstadt partout an einer eingeschossigen Bauweise festhält. Dies ist nicht nachvollziehbar.
Der FDP-Fraktion drängt sich der Verdacht auf, dass Lebensmitteldiscounter gut beraten sind, die GMA für entsprechende Gutachten zu beauftragen. Eine positive Bewertung ihrer Vorhaben scheint garantiert zu sein. Und wenn man nun bedenkt, dass ein entsprechendes Gutachten bereits durch die Fima Lidl auch für Bürstadt in Auftrag gegeben wurde, verwundert es nicht wirklich, dass dem Unternehmen irgendwie der Spagat gelingen muss bei der Fortschreibung des Einzelhandelskonzepts für Bürstadt trotz der für den insbesondere innerstädtischen Einzelhandel beängstigenden Situation zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Verkaufsflächenerweiterungen der Lebensmitteldiscounter unterstützt werden sollen. Ganz getreu dem Motto: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“
Darüber hinaus bedarf es auch einer Klärung der Frage, wie es sein kann, dass die Stadt Bürstadt exakt dasselbe Unternehmen mit der Fortschreibung des Einzelhandelskonzept beauftragt, das bereits zuvor für das Unternehmen Lidl ein Strukturgutachten zur beabsichtigten Flächenerweiterung erstellt hat. Ein neutrales Gutachten kann vor diesem Hintergrund niemand ernsthaft erwartet haben!
UPDATE:
Die FDP-Fraktion Bürstadt hat am 27.05.2021 bereits einen entsprechenden Antrag auf Neubeauftragung eines neutralen Unternehmens mit einem neuen objektiven Einzelhandelskonzepts und eine Anfrage gestellt, weshalb trotz des Konflikts widerstreitender Interessen mit der Fortschreibung des Einzelhandelsentwicklungskonzepts die GMA beauftragt wurde. Über den Fortgang werden wir Sie hier auf dem Laufenden halten.